kampf um die Elemente

Unterleuten

Autorin: Juli Zeh | Rezensiert von: Franziska Sörgel

Romane zu lesen, um ein Land oder eine Stadt kennenzulernen, ist eine altbekannte Methode. Manches Stadtmarketing profitiert mächtig davon: London bietet eigene Harry-Potter-Touren an, die wahren Fans die Ecken zeigen, die dem Zauberer-Epos als optische Vorlage dienten. Wahre Freunde von Carlos Ruiz Zafón müssen einmal in ihrem Leben  nach Barcelona reisen.

 

Juli Zeh schreibt von einer ländlichen Region Brandburgs rund um den Ort Unterleuten westlich von Berlin und ob dieses Buch irgendwelche touristische Auswirkungen haben wird, bleibt abzuwarten. Als potentieller Tourist wird man zunächst gut aufgeklärt über Geschichte, Geologie und die soziale Zusammensetzung des Ortes, den es auf keiner Karte gibt, aber in Brandenburg durchaus geben könnte. An dieser Stelle zwei Einschübe:

 

 Erstens: Ein großer Spaßfaktor an Unterleuten resultiert aus der Frage, was wahr ist in dem Buch und was erfunden. Die Internetseite des Vogelschutzbundes Unterleuten e.V. existiert zum Beispiel tatsächlich, sogar mit einer Postanschrift in „Unterleuten“, und man kann darüber T-Shirts kaufen. Auch der vielzitierte Ratgeber Dein Erfolg von Manfred Gortz ist im Buchhandel erhältlich, doch wer ist Manfred Gortz? Juli Zeh befeuert dieses Rätselraten lächelnd. Sie geht das Hütchenspiel mit Identitäten offenbar leichter an als die Protagonistin in Siri Hustvedts neuem Roman Die gleißende Welt, die ebenfalls eigene Werke unter Männernamen verkauft.

 

 

 

Zweitens: Legen Sie sich eine Landkarte zur Seite, denn Sie werden Lust zum Wandern bekommen. Beim Lesen ist man fast ständig an der frischen Luft, zwischen den Feldern und Wiesen Brandburgs, manchmal auch in der Dorfschänke und zu Besuch in den Häusern der real dort lebenden Menschen.

 

In dieser Naturtreue der Darstellung liegt für deutsche Leser, die nicht in Deutschland leben, der größte Gewinn dieses Werkes: Es lenkt den Blick von den Großstadt-Reisezielen auf das Land und zeigt mit der Lupe des Dichters, dass Deutschland nicht nur aus Brauhäusern und Einkaufszentren besteht, sondern aus großen Flächen schönem Landes und bizarrer Geschichten.

 

 

 

Worum geht es?

 

Die Erzählung spielt im Jahr 2010 in einem fiktiven Dorf westlich von Berlin auf ehemaligem DDR-Gebiet. Auf dieser kleinen Bühne treffen die verschiedensten Menschen aufeinander, die von der Autorin bewusst typisiert und zu einem Tableau an maximaler Konfliktträchtigkeit komponiert worden sind. Alteingesessene Landbewohner gegen Zugezogene aus der Großstadt, Kommunisten gegen Firmeninhaber, Männer gegen Frauen und Ex-Frauen, Teetrinker gegen Kaffeetrinker, alle Generationen gegeneinander, Umweltschützer gegen Investoren. Tatsächlich wird beim Lesen schon auf den ersten Seiten klar, dass jeder mit jedem im Verlauf der Handlung ein saftiges Huhn zu rupfen haben wird. Und genauso kommt es.

 

 

 

Es entfesselt sich ein sprichwörtlicher Kampf um die Elemente:

 

Um Feuer in Form von brennenden Reifenstapeln als Druckmittel unter Nachbarn.

 

Um Wasser in Form von realisierten und nicht realisierten Investitionen in Frisch- und Abwasseranlagen.

 

Um Luft in Form von Windparks, die die Erträge einiger vergrößern würden, die Idylle anderer jedoch stark beeinträchtigen würden.

 

Und schließlich um Erde in Form von Land, das sowohl für diese Windparks benötigt wird als auch als ehemals kommunistisch verwaltete landwirtschaftliche Nutzfläche die Lebensgrundlage Dorfgemeinschaft bilden könnte – doch in welcher Hand?

 

 

Kritik, die Juli Zeh häufiger zu hören bekommt, betrifft zum einen ihre überzogenen Dialoge und andererseits ihre stark typisierten Hauptfiguren. Beides ist dadurch erklärbar, dass die Autorin viel für das Theater schreibt, wo Überzeichnungen seit jeher Pflicht sind. Typisierte Figuren sind zudem eine Gemeinsamkeit mit Thomas Mann, in dessen Nähe man die 42jährige Autorin häufig stellt. Von Haus aus Juristin, veröffentlicht sie seit 2001 regelmäßig Erfolgsromane und Bühnenstücke, die gerne juristisch relevante Fragestellungen des gesellschaftlichen Miteinanders aufgreifen. Vordergründig ist dies in Unterleuten die so genannte Energiewende, der Umbau der Energiequellen für Wärme, Strom und Verkehr von einmal nutzbaren Brennstoffen zu erneuerbaren Ressourcen – hier Windkraft. Zwischen den eindeutig positiven Umfrageergebnissen zur Energiewende und den tatsächlichen Veränderungen klafft eine enorme Lücke, in die Juli Zeh mit ihren Figuren zusammen einen tiefen Blick wirft. Ihrer Meinung nach gründet sich diese Kluft auf dem eigentlichen Unruhemotor gesellschaftlicher Turbulenzen: Dem Unterschied zwischen Stadtbevölkerung und Landbewohnern, wie auf ihrer Homepage nachzulesen ist: „In den letzten Jahren hieß es immer: Die großen kulturellen Unterschiede, die bestehen zwischen Ost und West, zwischen Morgenland und Abendland, zwischen Islam und Christentum. In Wahrheit gilt aber auf der ganzen Welt: Die großen Unterschiede bestehen zwischen Stadt und Land.“ Ob die Zänkereien um Land und Windräder tatsächlich auf der Grundspannung zwischen Stadt und Land beruhen, diese Frage ist nur durch Lesen des sechsteiligen Gesellschaftsromans zu beantworten.

 

 

 

Die Typen, die den Konflikt schüren, sind teilweise internationale Prototypen, wie der Immobilienspekulant und die in sich verkrochene Ehefrau. Doch viele andere sind richtig typisch deutsche Geschöpfe: Die Gewinner und Verlierer des Mauerfalls, alt gewordene Ideologen der 1968er Generation, hauptamtliche WG-Bewohnerinnen, blonde Pferdenärrinnen, Berliner Großstadthipster und Vogelschützer. Von all diesen Typen kenne ich genügend persönlich, um sagen zu können, dass es keine literarischen Übertreibungen sind. Es steckt also auch ein Reiseführer für zeitgenössische deutsche Charaktere in dem Buch. Gleichzeitig ist es ein typischer Kriminalroman, in dem Menschen sterben und verschwinden. Vor den 600 Seiten braucht man keine Angst zu haben, sie sind in einer klaren Sprache geschrieben, an jeder Stelle spannend und gut strukturiert.

 

 

 

Während die Leser von Harry-Potter-Büchern meist in langweiligen Orten sitzen und sich von der Lektüre zu einem aufregenden London-Besuch motivieren lassen, verhält es sich mit Unterleuten anders herum: Man kann das Buch ein einem wunderbaren Ort lesen, beispielsweise in Südamerika, und bekommt sehr viel von Brandenburg mit, ohne selbst dorthin fahren zu müssen.

 

 

 

Viel Spaß beim Lesen!


Juli Zeh | Unterleuten
Luchterhand Literaturverlag, München, 2016

Gebundene Ausgabe, 635 Seiten
ISBN: 978 3 630 87487 6
24,99 €