Autor: Robert Menasse | Rezensiert von: Franziska Sörgel
Kulturelle Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland sind längst kein Thema mehr, wenn man beide Länder als Mitglieder der EU betrachtet und auch nicht hinsichtlich ihrer Sprache und
literarischen Produktivität.
Wenn nun aber ein österreichischer Autor (wie Robert Menasse) die Planungen zu einer großen Jubiläumsfeier politischer Einrichtungen beschreibt, dann will er wohl, dass man genauer hinsieht. Das
Zentrum seines Romans Die Hauptstadt ist die Ideenfindung zu den Feierlichkeiten anlässlich des sechzigsten Jahrestages der Gründung der Europäischen Kommission. Unwillkürlich denken
Europäer in diesem Kontext an Menasses berühmten Landsmann Robert Musil, der den Plot in seinem Roman Mann ohne Eigenschaften um die Planungen zum siebzigsten Thronjubiläum Franz Joseph
I herum aufgebaut hat.
Kaiser Franz Joseph hat sein lange geplantes Thronjubiläum im Übrigen nicht erlebt – was die Kritiker von Menasses Buch auffällig verschweigen. Haben Sie vielleicht Angst, dass die Europäische
Kommission ein ähnliches Schicksal erleidet? Apropos Kritiker: Einstimmig loben sie den literarischen Wert, die leichte Lesbarkeit und die unterhaltsame und komplexe Personenanordnung des Buches
seit seinem Erscheinen im Herbst 2017. Über die politische Botschaft zur Zukunft Europas gehen die Meinungen naturgemäß auseinander. Geplant sind von dem Buch Übersetzungen in 20 weitere
Sprachen. Lediglich für die englische Version gibt es schon ein Datum: Anfang 2019 bei MacLehose Press. Auf die spanische Ausgabe sollten Sie gespannt sein!
Neben einem hohen Unterhaltungswert bringt der Roman viele Kenntnisse über die Arbeitsweise der – selbst Europäern weitgehend unbekannten – Europäischen Kommission und führt uns auf anschaulichen
Spaziergängen durch die Stadt Brüssel. Sehr ernst ist es dazu dem Autor mit der Vermittlung der europäischen Idee und der Erfahrung des Nationalsozialismus als kontinentaler Aufgabe. Klingt das
nicht wie die ideale Lektüre für Ihre nächste Europreise? Das ist es unbedingt, zumal das Personal des Romans, schön gemischt, aus Vertretern verschiedener europäischer Länder besteht.
Obwohl sie alle virtuos und individuell gestaltet sind, blitzen die nationalen Klischees dennoch unverkennbar hervor. Oft musste ich beim Lesen an den alten Lieblingswitz meines Onkels über den
europäischen Himmel und die Europäische Hölle denken: Im europäischen Himmel seien die Engländer die Polizisten, die Franzosen die Köche, die Italiener die Liebhaber, die Deutschen die Ingenieure
und die Schweizer übernähmen die Organisation. Doch nach einer Neuorganisation sei die europäische Hölle entstanden: Die Deutschen wurden die Polizisten, die Engländer die Köche, die Schweizer
die Liebhaber, die Franzosen die Ingenieure und organisieren müssten die Italiener. Diese Geschichte muss dem Autor in irgendeiner Form als Ausgangspunkt gedient haben, dachte ich mir.
Dass Menasse kein plumper Schreiber ist, erkennt man daran, wie er die Klischees ganz behutsam modernisiert hat. Er ergänzt zum Beispiel die Griechen als die momentan finanziellen Underdogs der
EU, die aus den „wichtigen“ Abteilungen Landwirtschaft und Finanzen in das „unrelevante“ Ressort Kultur degradiert wurden. Kokett ist ebenfalls, dass und wie er die einzige echte Liebhaberrolle
mit einem Deutschen besetzt. Wobei die Themenverteilung innerhalb des Romans sehr wahrscheinlich der realen Agenda der Europapolitik entspricht: Verhandlungen, Intrigen, Wissenschaft, Liebe,
Kirche, Mord und ja, die namenlose Sau, die stets aufs Neue durchs Dorf getrieben wird. Und richtig geraten: die Liebe hat den mickrigsten Auftritt.
Für den Repräsentanten Österreichs nutzt der Autor übrigens seinen Heimvorteil und schickt gleich drei Männer in die Arena, die jeweils ordentlich ihr Salz dazu geben. Wie bei Robert Musil auch,
steuern die Österreicher zum großen Plan nicht die unbedingt besten Ideen bei, gehen aber stets mit den besseren Geschichten nach Hause.
Viel Spaß beim Lesen!
Robert Menasse | Die Hauptstadt
Suhrkamp / Insel
Gebunden, 459 Seiten
ISBN: 978-3-518-42758-3
24,- €