Die „Wege des Herrn“ in den Straßen von Berlin

Die Gottespartitur

Autor: Edgar Rai| Rezensiert von: Franziska Sörgel

Am Prenzlauer Berg in Berlin gibt es allerhand spezielle Sachen. „viel Spaß beim alt sein!“ ist dort auf eine Wand gekritzelt. In verblassten Lettern kann man über der Toreinfahrt noch das längst vergessene Wort „Sattlerei“ lesen. Weiter unten steht „F. Krause Töpfer Mstr.“ – der musste mit der Kellerwohnung vorlieb nehmen. Sicher trafen sich alle abends in der Budike am  Eck, in der „schwarzen Pumpe“. Wo heute die Typen aus dem TattooStudio „Pain and Ink Department“ hingehen und der Doktor der Geisteswissenschaften, der einen Fahrradladen nur für Hollandräder betreibt. Und mittendrin gibt es dort einen Schriftsteller, der sich morgens in ein Café setzt, seinen Stift aufschraubt und einen Roman nach dem anderen schreibt. Einen von diesen (es sind 15)  habe ich in diesem Urlaub gelesen und dachte sofort: „Das ist richtig gute deutsche Heimwehlektüre, halb Krimi, halb Kulturspielerei, perfekt für den gelungen Expats-Feierabend – der kommt ins Monatsblatt!“

Mein Auftrag lautet also, Euch darüber gerade genug zu erzählen um Euch schön neugierig zu machen ohne allzu viel zu verraten. Wo also anfangen?

Unverfänglich ist immer der Stil. Recht wenig Artikel drin fällt mir auf. Eher so gar keine. Entpuppt sich aber als journalistischer Kunstgriff, um uns auf das Denktempo des Protagonisten zu bringen. Liest sich ganz gut.

Ich selbst sollte jedoch anstandshalber vollständige Sätze servieren:

Die Geschichte beginnt in Frankfurt am Main, wo sich während der Buchmesse für den erfolgreichen Literaturagenten Gabriel Pfeiffer die Fährnisse des Lebens – im einzelnen und besonderen ein erstes Herzversagen, die Wiederkehr des Ewiggleichen (i. e. Buchmesse) sowie der altersbedingte Lebensekel zusammenzuklumpen beginnen. Eine angeblich welterschütternde Entdeckung, die ihm ein Gymnasiast unbeholfen aufdrängt, verbessert Pfeiffers Laune kein bisschen. Die bleibt mehrere hundert Seiten lang grandios schlecht.

Pfeiffer immerhin setzt sich in Bewegung, macht einen Abstecher nach London, doch führt uns immer wieder zielstrebig in den ausgedachten oberbayerischen Ort Gödelsburg. Ja, richtig, da steckt Herr Gödel darin, der mit den Sätzen, die innerhalb geschlossener Systeme weder bewiesen noch widerlegt werden können. So eine Knacknuss bekommt auch prompt der brummige Herr Pfeiffer vorgesetzt: Wenn des Menschen Materie nicht nur Teilchen sondern gleichzeitig auch Welle ist, dann ist er ganz grundsätzlich anfällig für Schwingungen. Mikrowellengegner und Fernsehdiaboliker haben das schon immer gewusst. Wellnessphilosophen  verweisen in diesem Zusammenhang gerne auf die These des Pythagoras von einem klingenden Weltall, einer „Sphärenmusik“, in deren Frequenzbereich sich einzuschwingen erlösendes  Ziel jeder gestressten Seele sei. Edgar Rai spielt uns das Gegenteil vor: Die Frequenzkatastrophe, das gegenseitige Aufschwingen identischer Schwingungen bis zum Glassprung – oder dem Exitus.

Wird Herr Pfeiffer demnach erlöst? Oder muss er dran glauben? Selbstverständlich erfahrt Ihr das nicht von mir. Nur, dass noch andere versuchen, den lebenskrisenkranken Gabriel (ja, ja, dieser Erzengel!)  zu erlösen. Und zwar die offenbar obligatorische Mannschaft irre gutaussehender oder reicher und berühmter Frauen, die alle ganz verrückt nach muffeligen Mittfünfzigern sind. Für den Feierabendleser ist das mit Sicherheit eine nette Ausstattung; den Pokal für die originellste Midlife-Crisis  gibt es dafür nicht. Dieses Verdienst darf sich immer noch Paul Mercier auf die Fahne schreiben – auch wenn seine Geschichten langweilig sind, so führt er doch seine Helden konsequent ohne den Beistand von Blondinen durch die Engpässe des Seins.

Herr Rai führt uns immerhin zu einem waschechten Showdown, der schon verdächtig nach Filmkamera riecht. Es würde mich nicht wundern, diese Geschichte bald auf DVD zu sehen. Doch die werde ich mir mit Sicherheit nicht anschauen, dazu liebe ich die artikellose Schreibe und die ungezogenen inneren Monologe der Buchversion viel zu sehr.

Euch allen viel Vergnügen beim Lesen wünscht

Franziska Sörgel


Edgar Rai

Die Gottespartitur

Berlin Verlag, 2014

304 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.

ISBN: 978-3-8270-1149-7

€ 19,99